Interview: Alexandra Müller mit Leandra Kissling
Sterilisation ist ein Tabuthema, insbesondere bei jungen Frauen, die sich bewusst gegen Kinder entscheiden. Leandra Kissling ist 32, Pflegefachfrau und Notfallexpertin und hat sich letztes Jahr sterilisieren lassen. Ein Entscheid, der sie viel Kraft, Geduld und Hartnäckigkeit gekostet hat. Im Interview mit der Frauenzentrale Zürich spricht sie über ihren Weg zur Selbstbestimmung, die fehlende Unterstützung im Gesundheitssystem und darüber, wie sie mit ihrer Erfahrung nun anderen Frauen helfen möchte.
Warum wir dieses Interview führen? Weil Frauen das Recht haben, selbst über ihren Körper und ihre Zukunft zu entscheiden. Weil es immer noch zu wenige Orte gibt, an denen offen über kinderfreies Leben gesprochen wird. Und weil wir überzeugt sind, dass Leandras Geschichte Mut macht und Debatten anstösst, die längst überfällig sind.
Frauenzentrale Zürich (FZ): Leandra, du hast dich mit 31 Jahren sterilisieren lassen. Was war für dich der entscheidende Moment, diesen Schritt zu gehen?
Leandra Kissling: Ich wusste schon sehr früh, dass ich nie Kinder haben möchte. Der Wunsch nach einer Sterilisation kam bei mir somit bereits Anfang 20 auf. Ich wusste jedoch auch von verschiedenen Frauen, die sich sterilisieren lassen wollten, dass sie erst ab 30 Jahren überhaupt eine Chance hatten, ernst genommen zu werden. Deswegen habe ich selbst auch bis zu diesem Alter gewartet.

FZ: Welche Hürden hast du im Schweizer Gesundheitssystem erlebt, bis du die Sterilisation durchführen konntest?
LK: Ich hatte das grosse Glück, eine Gynäkologin zu haben, die meinen Wunsch voll und ganz unterstützt hat. Sie hat mich an das Universitätsspital Zürich überwiesen, wo man sich gegenüber solchen Eingriffen sehr aufgeschlossen zeigte. Ich habe mir jedoch vor dem Eingriff zur Sicherheit ein psychologisches Gutachten erstellen lassen, damit meine Chance grösser ist, dass ich den Eingriff auch wirklich durchführen kann. Zudem musste ich im Vorbereitungsprozess gesamthaft mit drei verschiedenen Ärzten sprechen, die dann alle unabhängig voneinander bestätigen konnten, dass ich auch wirklich keine Kinder möchte, und dass ich verstanden habe, dass dieser Eingriff endgültig ist.
FZ: Du bietest mit c&c Medical Guidance medizinische Beratung aus einer feministischen Perspektive an. Was bedeutet das konkret?
LK: Das bedeutet konkret, dass meine Beratungen nebst meiner grossen fachlichen Kompetenz vor allem von meiner Empathie geprägt sind. Einfühlungsvermögen und Verständnis für ihre individuelle Situation finden selbstbestimmte Frauen ohne Kinderwunsch im Gesundheitswesen nur selten, weil sie nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen. Dass ich neben meinem Expertenwissen auch meine persönlichen Erfahrungen in meine Beratungen einfliessen lassen kann, ist für betroffene Frauen von grossem Wert. Das Empowerment meiner Klient:innen steht für mich stets im Mittelpunkt.
FZ: Wie reagieren andere Frauen auf deine Offenheit, über das Thema Sterilisation zu sprechen?
LK: Das ist sehr unterschiedlich. Frauen, die schon immer einen klaren Kinderwunsch hatten, sind zu Beginn meist etwas irritiert, wenn sie erfahren, dass ich mich «so jung» und kinderlos sterilisieren lassen habe. Normalerweise zeigen sie im Verlauf des Gesprächs jedoch Verständnis. Frauen, die ebenfalls keine Kinder wollen, sind meist sehr wissbegierig und froh, wenn ich meine Erfahrungen so ausführlich wie möglich mit ihnen teile. Viele haben sich bisher gar noch nicht so viele Gedanken über die Möglichkeit einer Sterilisation gemacht, weil sie noch nie von Fachpersonen auf diese Verhütungsmethode aufmerksam gemacht worden sind.
FZ: Welche Vorurteile begegnen dir rund um den Wunsch, kinderfrei zu leben?
LK: Da gibt es viele. Allen voran natürlich das äusserst beliebte Argument, dass ich selbst nur noch nicht weiss, dass ich eigentlich doch Kinder will. Ich müsse einfach noch etwas warten, dann komme der Wunsch schon. Und in Zusammenhang damit, dass ich die Sterilisation definitiv bereuen werde. Was selbstverständlich nicht der Fall ist.
FZ: Warum ist es so wichtig, dass Frauen über ihren eigenen Körper und ihre Fruchtbarkeit selbst bestimmen können, auch ohne medizinische Rechtfertigung?
LK: Weil die Selbstbestimmung über die eigene Gesundheit ein zentrales Element unserer Gesellschaft ist. Und dazu gehört auch die Reproduktionsgesundheit. Bei Frauen ist dieses Thema um einiges umfangreicher und auch komplexer als bei Männern. Männer sind diesbezüglich immer noch stark privilegiert. Mir ist noch nie ein Mann begegnet, der sich rechtfertigen musste, weil er eine Vasektomie (Unterbindung des Mannes) machen lassen möchte – geschweige denn, dass er dafür gar ein psychologisches Gutachten braucht! Wie so vieles ist für Männer auch die Möglichkeit einer Unterbindung absolut selbstverständlich. Hier muss zwingend eine Gleichstellung von Frau und Mann erreicht werden.



FZ: Welche Erfahrungen aus deinem medizinischen Berufsalltag als Notfallpflegefachfrau fliessen in deine Beratungen ein?
LK: Meiner jahrelangen Arbeit als Notfallpflegefachfrau verdanke ich mein grosses Fachwissen in diversen medizinischen Bereichen. Ich bin somit nicht nur auf ein Fachgebiet spezialisiert, sondern kenne mich in praktisch allen Themenbereichen vertieft aus. Das Nachdiplomstudium in Notfallpflege ist sehr anspruchsvoll und erweitert den Wissenshorizont einer Pflegefachfrau enorm.
FZ: Wie kann eine individuelle Gesundheitsberatung Frauen dabei unterstützen, informierte Entscheidungen zu treffen?
LK: Jede Frau ist individuell. Es gibt durchaus Gynäkologinnen, die das berücksichtigen und sich sehr viel Zeit für ihre Patientinnen nehmen. Aber leider gibt es auch andere, und das ambulante Tarifsystem macht ausführliche Patientenberatungen sehr schwierig und nicht gerade lukrativ. Wer eine informierte Entscheidung treffen möchte, braucht eine individuelle, empathische Beratung. Und wer diese nicht bei seiner Gynäkologin bekommt, bekommt sie bei mir in einem ausführlichen Gespräch.
FZ: Du sprichst auf deiner Website von «medizinischer Selbstermächtigung». Was verstehst du darunter?
LK: Die Zeiten, in denen Patient:innen ihren Ärzt:innen hilflos ausgeliefert waren, sind zum Glück endgültig vorbei. Dass die Behandler:innen das ganze Fachwissen haben und die Patient:innen nur blind deren Rat befolgen, entspricht nicht mehr dem Zeitgeist. Das zeigt sich nur schon daran, dass viele Menschen vor ihrem Arztbesuch Google konsultieren und dann bereits mit ersten Verdachtsdiagnosen zum Termin kommen. Das Informationsbedürfnis ist riesig. Es ist die Pflicht der Ärzt:innen, ihr Fachwissen so an ihre Patient:innen weiterzugeben, dass sie selbst informierte Entscheidungen treffen können. Wissen ist Macht. Und je mehr Patient:innen sich möglichst selbstständig und kompetent um ihre Gesundheit kümmern können, desto weniger wird unser Gesundheitssystem finanziell belastet. Und desto gesünder wird unsere Gesellschaft als Ganzes.
FZ: Gibt es aktuelle Lücken in der gesundheitlichen Aufklärung, insbesondere in Bezug auf Verhütung und Sterilisation?
LK: Absolut. Oft wird die Sterilisation als mögliche Verhütungsmassnahme gar nicht erwähnt. Sie gilt als Ultima ratio, als schwerwiegender Eingriff in den Körper mit gravierenden Folgen. Das entspricht nicht der Realität. Die Sterilisation kann ambulant und mit äusserst wenig Komplikationen durchgeführt werden. Der Heilungsprozess dauert wenige Wochen und verläuft insbesondere bei jungen Patientinnen in der Regel problemlos. Spätestens nach sechs Wochen ist er komplett abgeschlossen. Und ab diesem Zeitpunkt muss sich eine Frau nie wieder Gedanken über eine ungewollte Schwangerschaft machen. Sie muss nie wieder Medikamente nehmen, die ihren Hormonhaushalt beeinflussen, nie wieder Geld für all die Präparate bezahlen, die von der Krankenkasse stossenderweise nicht finanziert werden und auch nie mehr regelmässig unangenehme gynäkologische Eingriffe wie die Einlage einer Spirale über sich ergehen lassen. Aus fachlicher Perspektive überwiegen die Vorteile einer Sterilisation deren Nachteile klar. Als praktisch zu 100 % sichere Verhütungsmethode ist sie den anderen Möglichkeiten deutlich überlegen. Dass sie in einem regulären gynäkologischen Gespräch als mögliche Verhütungsmethode normalerweise nicht mal thematisiert wird, ist absolut unverständlich. Aktuell ist es nach wie vor so, dass Frauen, die sich für den Eingriff interessieren, von sich aus mit diesem Wunsch auf ihre behandelnde Gynäkologin zugehen und sich auch fast alle Informationen selbst zusammensuchen müssen.
FZ: Welche Empfehlungen gibst du Frauen, die ähnliche Überlegungen zur Sterilisation anstellen, aber noch unsicher sind?
LK: Informiert euch! Sucht euch eine Gynäkologin, die eurem Anliegen offen gegenübersteht und euch unvoreingenommen berät. Sucht im Internet nach Frauen, die sich ebenfalls sterilisieren lassen haben und tauscht euch mit ihnen aus. Lest Fachartikel zur Thematik. Nehmt unbedingt eine individuelle Beratung in Anspruch, entweder bei mir oder einer anderen medizinischen Fachperson.
FZ: Was müsste sich im Schweizer Gesundheitssystem ändern, damit reproduktive Selbstbestimmung nicht länger ein Privileg ist?
LK: Nur schon die Finanzierung muss geändert werden. Die Krankenkasse bezahlt praktisch alle Schwangerschaftskontrollen, die Geburt und auch ein Grossteil der Kosten des Wochenbetts. Das sind sehr hohe Beträge – insbesondere bei mehreren Kindern! Verhütung jeglicher Art wird jedoch nicht finanziert. Diese Ungerechtigkeit muss zwingend beseitigt werden. Eine Sterilisation ist ein teurer Eingriff. Oft überlegen sich Frauen auch aus finanzieller Sicht zweimal, ob sie diesen wirklich vornehmen lassen wollen oder nicht. Komplette reproduktive Selbstbestimmung ist zudem erst erreicht, wenn sich jede Frau ab 18 Jahren sterilisieren lassen kann, ohne sich auch nur ein einziges Mal dafür rechtfertigen zu müssen – weder vor Ärzt:innen noch von der Gesellschaft.

FZ: Und zum Schluss: Was ist dein Wunsch für die nächste Generation von Frauen, wenn es um Körper, Gesundheit und Selbstbestimmung geht?
LK: Ich wünsche ihnen eine Welt voller Möglichkeiten. Eine Welt, in der ihr Interesse für diese Themen belohnt wird und ihre Werte respektiert werden. Eine Welt, in der sie diesbezüglich nicht nur mitreden können, sondern die Haupt-Akteurinnen sind. Dass sie ihre Gesundheit, insbesondere auch ihre Fruchtbarkeit, komplett selbst in die Hand nehmen können, ohne dass ihnen von irgendjemandem etwas vordiktiert wird. Dass ihnen die Gesellschaft die dafür nötigen Ressourcen gibt. Und dass sie stets mutig vorangehen, bis auch die letzte Ungleichheit beseitigt ist.
Mehr Infos findest du auf ccmedicalguidance.ch.
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Viel Spass beim Lesen!