Text: Alexandra Müller
Im Exklusiv-Interview spricht die Frauenzentrale Zürich mit Simone Eymann-Pasquini über das innovative Tool ‘Safe withyou’ von Tech against Violence. Das Online-Tool hilft Betroffenen, erlebte häusliche Gewalt und Stalking sicher zu dokumentieren und frühzeitig Hilfe zu suchen. Erfahre mehr über die Entstehung des Projekts, die Funktionen und die Rolle von ‘Safe withyou’ bei der Bekämpfung von Gewalt in der Schweiz.
Frauenzentrale Zürich (FZ): Liebe Simone Eymann-Pasquini, vielen Dank für deine Zeit. Du leitest den Verein “Tech against Violence”, mit dem ihr das Projekt “Safe withyou” realisiert habt. Wie ist dieses Tool entstanden und welche Herausforderungen gab es bei der Entwicklung für die Dokumentation von häuslicher Gewalt und Stalking in der Schweiz?
Simone Eymann-Pasquini: Während der COVID-19-Pandemie haben wir im 2020 den gemeinnützigen Verein Tech against Violence gegründet. Angesichts der prekären Lage wollten wir zunächst ein digitales Tool für Betroffene von häuslicher Gewalt entwickeln.
Nach über einem Jahr Recherche und vielen Gesprächen mit Expert:innen im In- und Ausland, aber auch Betroffenen, haben wir das Projekt “#withyou: Gemeinsam gegen toxische Beziehungen und häusliche Gewalt” Mitte 2022 lanciert. #withyou ist ein Online-Tool in der Schweiz, das mit interaktiven Fragebögen und einfachen Definitionen arbeitet, damit sich Betroffene von häuslicher Gewalt ihrer Situation früh bewusstwerden und Hilfe suchen, bevor die Gewalt eskaliert. Das Herzstück von #withyou ist ein Fragebogen zur Gesundheit einer Beziehung, der den Schwerpunkt auf die Erkennung von emotionaler Gewalt legt. Denn diese ist besonders schwer fassbar und ein Nährboden für körperliche Gewalt.
Safe withyou, der Online-Speicher für Beweise von häuslicher Gewalt und Stalking, ist eine Weiterentwicklung von #withyou und wurde im März 2024 lanciert. Denn, wenn Betroffene merken, dass sie in einer gewalttätigen Beziehung sind, möchten wir sie ermutigen, Gewaltvorfälle so früh wie möglich zu dokumentieren.
Vor der technischen Entwicklung von Safe withyou haben wir intensiv recherchiert und mit Fachstellen, Polizeien, Spitälern, IT-Entwickler:innen, Anwält:innen und Betroffenen Gespräche geführt. Ein Online-Speicher wurde als Lücke in der Schweiz identifiziert, denn Beweise auf dem Mobiltelefon zu speichern, sei zu riskant. Die Herausforderungen bei der Entwicklung des Online-Speichers lagen vor allem im Bereich Datenschutz der Nutzer:innen und beim Sicherheitskonzept des Tools. Hier konnten wir zum Glück auf die Erfahrung von IT-Spezialist:innen und IT-Rechtsanwält:innen in der Schweiz zurückgreifen.
FZ: Inwiefern unterstützt “Safe withyou” Betroffene dabei, Gewaltvorfälle sicher zu erfassen und zu dokumentieren, insbesondere im Hinblick auf eine spätere Anzeige?
Simone Eymann-Pasquini: Häusliche Gewalt hat viele Formen. Sie beginnt oft schleichend, baut sich immer mehr auf und nimmt an Schwere zu. Das gilt auch für Stalking. Fachpersonen empfehlen deshalb, dass man möglichst früh damit beginnen soll, jegliche Gewalthandlungen zu erfassen.
Auf Safe withyou können Betroffene über ein sicheres Login Fotos von Verletzungen, Screenshots von Chatverläufen, verpassten Anrufen, etc, aber auch Sprachnachrichten, Audio- und Videoaufnahmen und Tagebucheinträge speziell zur Dokumentation von Stalking-Vorfällen hochladen. Wie man gute Fotos macht und was beim Dokumentieren wichtig ist, erfahren Betroffene durch einfache Anleitungen. Die erfassten Beweismittel und Einträge können mit wenigen Klicks als Beweismappe im PDF-Format heruntergeladen und einer gewünschten Stelle, zum Beispiel der Polizei, übergeben werden.
Vorteile für die Betroffenen sehen wir hier vor allem in drei Bereichen: Betroffene können mit der Dokumentation der Gewaltfälle ungesunde Beziehungsmuster besser identifizieren, sie können früher erkennen, ob ihre Sicherheit gefährdet ist, und sind für einen Rechtsprozess besser vorbereitet. Denn Strafverfolgungen von häuslicher Gewalt und Stalking sind schwierig, oft fehlt es an Beweismitteln.
FZ: Wie wurde der Bedarf für ein digitales Tool wie “Safe withyou” in der Schweiz erkannt? Gab es spezifische Ereignisse oder Entwicklungen, die dazu geführt haben?
Simone Eymann-Pasquini: Bereits in unseren Gesprächen mit Fachexpert:innen, Betroffenen, Polizei und Spitälern für das erste Projekt #withyou hat sich herauskristallisiert, dass ein Online-Speicher für Beweismittel von häuslicher Gewalt und Stalking eine Lücke in der Schweiz ist. Diese wollten wir mit Safe withyou füllen. Bei der Entwicklung haben wir eng mit Gewaltbetroffenen zusammengearbeitet und die Inhalte gespiegelt, damit Safe withyou bedürfnisgerecht entwickelt wird. Als Verein ist es uns ein Anliegen, einen Beitrag zur Istanbul-Konvention zu leisten. Dies machen wir hier mit der Einbindung von Informations- und Kommunikationstechnologien gegen häusliche Gewalt, aber auch bei der Sensibilisierung.
FZ: Welche Rolle spielt die Mehrsprachigkeit der Plattform, insbesondere die Verfügbarkeit in verschiedenen Sprachen, bei der Unterstützung von Opfern häuslicher Gewalt in der Schweiz?
Simone Eymann-Pasquini: #withyou und Safe withyou sind in fünf Sprachen verfügbar: Deutsch, Französisch, Italienisch, Englisch und Spanisch. Auf #withyou haben wir einen kleinen Teil auch auf Arabisch allgemein zum Thema häusliche Gewalt in der Schweiz übersetzt. Für Tech against Violence ist es wichtig, die Sprachen anzubieten, die wir selbst betreuen können, damit das Tool aktuell bleibt. Wir haben auch gemerkt, dass die Sprachen am meisten genutzt werden, in denen die Sensibilisierungskampagnen stattfinden. Und das sind bis jetzt vor allem die Landessprachen.
FZ: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und Behörden im Bereich der Bekämpfung von häuslicher Gewalt und Stalking bei der Entwicklung und Umsetzung von “Safe withyou”?
Simone Eymann-Pasquini: Da Gespräche für uns vor der technischen Entwicklung sehr wichtig sind, haben wir sehr gute Erfahrungen mit dem „Ökosystem“ von Organisationen und Behörden in der Schweiz gemacht. Wir schätzen die Zusammenarbeit, denn häusliche Gewalt können wir nur gemeinsam angehen. Nicht alle Lösungen müssen dieselben sein. Als Verein beschäftigen wir uns mit den technischen Möglichkeiten in der Schweiz und sehen unsere Rolle als Brückenbauerin zwischen Betroffenen und bestehenden Fachstellen. Wir sind stets für Feedback offen, suchen proaktiv den Austausch und freuen uns immer wieder über Einladungen zu Fachreferaten und Workshops von anderen Organisationen. Schön sind auch immer die Kollaborationen, die rund um die 16 Tage gegen Gewalt an Frauen entstehen. Letztes Jahr haben wir zusammen mit der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern Podcasts gegen Gewalt produziert, eine Buskampagne mit Fachstellen in Zürich, aber auch animierte Kurzfilme aus der Romandie unterstützt, damit sie auf Deutsch übersetzt werden können.
FZ: Kannst du etwas zu den Sicherheitsmassnahmen und Datenschutzrichtlinien von “Safe withyou” sagen, insbesondere in Bezug auf den Schutz der persönlichen Daten der Benutzerinnen?
Simone Eymann-Pasquini: Die Sicherheit der Daten haben bei Safe withyou oberste Priorität. Um ein Konto zu erstellen, braucht es daher eine zweifache Authentifizierung. Alle Daten sind verschlüsselt auf einem Cloud-Server in der Schweiz gespeichert und weder für uns noch unsere IT-Entwickler:innen sichtbar. Die Architektur hinter diesem Sicherheitskonzept ist sehr komplex und kann aus Sicherheitsgründen hier nicht im Detail beschrieben werden.
In unseren Sensibilisierungskampagnen auf den Sozialen Medien haben wir einige Videos und Posts zum Thema „Sicher Surfen“ verfasst. Denn wenn ein (Ex)Partner oder eine (Ex-)Partnerin das Telefon kontrolliert, gelten auch beim Nutzen von Safe withyou Vorsichtsmassnahmen.
FZ: Welche Schulungen oder Ressourcen werden den Benutzerinnen von “Safe withyou” angeboten, um sicherzustellen, dass sie das Tool effektiv nutzen können?
Simone Eymann-Pasquini: Betroffene, die sich für Safe withyou interessieren, gelangen über eine Anleitung auf #withyou, die wir in Zusammenarbeit mit Polizeien, Stalking-Fachstellen, Forensic Nurses und Betroffenen erarbeitet haben, zum Online-Speicher. Nachdem man ein Konto eröffnet hat, gibt es noch einmal sehr einfache Instruktionen, die einem zeigen, wie der Online-Speicher funktioniert. Sollte jemand Hilfe brauchen, haben wir unsere E-Mail-Adresse hinterlegt, wo man Fragen stellen und Feedback abgeben kann. Wenn eine Organisation eine Schulung wünscht, sind wir natürlich sehr offen, diese persönlich zu geben.
FZ: Wie fördert “Safe withyou” die Sensibilisierung für das Thema häusliche Gewalt und Stalking in der Schweizer Gesellschaft?
Simone Eymann-Pasquini: Bis jetzt sensibilisieren wir vor allem über das Tool #withyou zu den Themen toxische Beziehungen, häusliche Gewalt und Stalking und das via traditionelle Medien (Zeitungsartikel, Werbung, Plakate, Flyer oder Stickers), aber auch über die Sozialen Medien wie Instagram, Facebook, Linkedin und TikTok. Wir versuchen auch, junge Menschen in den ersten Paarbeziehungen abzuholen und haben z.B. mit dem Quartierprojekt im Kanton-Basel-Stadt „Halt Gewalt!“ einen Workshop für Lernende des Kantons entwickelt, der jetzt ins reguläre Programm aufgenommen wurde. Das ist ein gutes Signal, denn bei der Sensibilisierung kann man nicht früh genug anfangen.
Wir reden von toxischen Beziehungen, da sich viele einfacher damit identifizieren können als mit häuslicher Gewalt: Ich bin ja nicht verheiratet, ich lebe nicht mit meinem/meiner Partner:in zusammen, etc. – sagen uns viele. Auch mit dem Opferbegriff ist sehr viel Stigma verbunden. Mit der Verwendung von «toxischen Beziehungen» wollen wir Gewalt aber auf keinen Fall verharmlosen, sondern Betroffene früher abholen, wenn sie ein schlechtes Bauchgefühl haben, das Problem aber nicht direkt benennen können.
FZ: Kannst du etwas zu den Nutzerzahlen sagen? Wie oft wird die Website besucht und wie oft wird Hilfe in Anspruch genommen?
Simone Eymann-Pasquini: Seit Lancierung 2022 haben knapp 34‘00 Personen #withyou in allen Sprachen über 113‘000-mal besucht. Das heisst, Nutzer:innen besuchen die Seite mehrmals. Auch das Herzstück von #withyou, der Fragebogen zur Gesundheit einer Beziehung, wurde insgesamt über 30‘000-mal konsultiert. Letztes Jahr haben 20 Personen auf den „Bitte kontaktiert mich“-Button bei den Schweizer Opferberatungsstellen und Frauenhäusern geklickt. Diese Zahlen zeigen, dass es Bedarf an Information gibt.
Für Safe withyou ist es nach knapp einem Monat früh, eine Einschätzung der Nutzung zu geben. Wir sehen aber, dass über 50 Konten im ersten Monat registriert wurden. Die Anleitungsseite wurde von knapp 1‘000 Personen über 1‘700-mal in allen Sprachen aufgerufen.
FZ: Gibt es Pläne, “Safe withyou” in Zukunft zu erweitern? Wenn ja, welche neuen Funktionen oder Weiterentwicklungen sind geplant?
Simone Eymann-Pasquini: Im Moment ist Safe withyou spezialisiert auf das Erfassen von Beweismitteln von häuslicher Gewalt und Stalking. Wir haben bereits nach einem Monat gehört, dass ein grosses Interesse besteht, weitere Gewaltkategorien erfassen zu können. Hierzu müssen wir aber zuerst Gespräche führen, Anleitungen verfassen und dann die technischen Anpassungen machen. Ich denke, dass wir dies im Herbst 2024 angehen werden.
Eine andere Weiterentwicklung könnte sein, dass Spitäler die Akten der Betroffenen direkt via Safe withyou übermitteln können. Im Moment müssen Opfer, die bei der Rechtsmedizin waren, nach ein paar Tagen ihre Akten physisch abholen gehen. Safe withyou könnte ihnen diesen zusätzlichen Schritt ersparen. Auch hier sind wir derzeit in Gesprächen, um die beste Lösung finden zu können und wissen im Herbst 2024 mehr.
FZ: Abschliessend, was sind die wichtigsten Botschaften oder Handlungsempfehlungen, die du den Mitgliedern der Frauenzentrale Zürich mit auf den Weg geben möchtest, wenn jemand in einer toxischen Beziehung lebt?
Simone Eymann-Pasquini: Häusliche Gewalt ist ein weitverbreitetes Problem, welches Frauen, Männer und Kinder betrifft, mit einer riesigen Dunkelziffer.
Wenn du selbst betroffen bist, möchten wir dir folgende wichtige Botschaften mitgeben: Höre auf dein Bauchgefühl, denn du spinnst nicht, du bist nicht schuld und du bist nicht allein! Vielen in der Schweiz geht es so wie dir, denn jede fünfte Person hat bereits Gewalt in der Partnerschaft erlebt. Mach den Beziehungstest auf #withyou und lerne, die Warnzeichen von häuslicher Gewalt zu erkennen. Vertrau dich jemandem an, sprich über deine Erfahrungen und hol dir Hilfe. Opferberatungsstellen sind anonym, vertraulich und gratis und können dir helfen. Fühlst du dich in Gefahr, dann hol unbedingt die Polizei.
Höre auf dein Bauchgefühl, denn du spinnst nicht, du bist nicht schuld und du bist nicht allein!
Wenn du jemanden kennst, der in einer toxischen Beziehung ist: Höre zu und habe Geduld. Die Situation, in der sich Gewaltbetroffene befinden, ist sehr kompliziert. Dass Betroffene die erlebte Gewalt oft so lange aushalten, ist für Angehörige und das soziale Umfeld häufig schwer nachvollziehbar. Angehörige und Freund:innen sind oft die erste Anlaufstelle für Betroffene und ihre Reaktion darum umso wichtiger. Auch Nachbar:innen spielen eine wichtige Rolle, denn sie bekommen aufgrund der Nähe sehr viel mit. Informiere dich auf #withyou im Bereich, den wir speziell für Angehörige und Nachbar:innen entwickelt haben. Wichtig zu wissen: Auch du kannst dich von einer Opferberatungsstelle beraten lassen, wenn du nicht selbst betroffen bist, du aber wissen willst, wie du mit der Situation umgehen sollst.
FZ: Danke vielmals für das spannende Interview!
Simone Eymann-Pasquini Geschäftsleiterin des Vereins «Tech against Violence» |
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Über Safe withyou
Häusliche Gewalt ist in der Schweiz ein weit verbreitetes Problem: Jede Woche kommt es zu einem Tötungsversuch, alle zwei Wochen stirbt eine Person. Betroffen sind vor allem Frauen, aber auch Männer und Kinder. Die Dunkelziffer ist riesig. Weniger als die Hälfte aller Opfer holt sich Hilfe, aus Angst, Scham oder weil sie nicht verstehen, dass sie in einer gewaltsamen Beziehung stecken.
Gewalt in der Partnerschaft hat viele Erscheinungsformen. Besonders emotionale Gewalt ist schwer fassbar. Da toxische Verhaltensweisen häufig einem ähnlichen Muster folgen, sind Warnzeichen oft früh erkennbar. Genau hier setzt #withyou an.
#withyou wurde lanciert von Tech against Violence, einem Verein, der digitale Lösungen gegen Gewalt entwickelt.
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