Text: Olivia Frei
Selbstbestimmung – ein grosses Wort. Die Frauenzentrale Zürich setzt sich seit 110 Jahren dafür ein, dass Frauen ein selbstbestimmtes Leben führen können. Wann lebe ich selbstbestimmt? Ist es etwas, das mir zusteht, oder bin ich mitverantwortlich?
Selbstbestimmung ist definiert als die Möglichkeit, über eigene Handlungen, Ziele und Entscheidungen zu bestimmen, ohne von äusseren Zwängen oder Einflüssen manipuliert oder kontrolliert zu werden. Das klingt gut, richtig und wichtig. Als Frau kann und soll ich frei entscheiden können, welchen Beruf ich ergreifen möchte, ob und mit wem ich Kinder haben möchte, ob und wen ich wählen möchte, mit wem ich wann und wie einvernehmlichen Sex haben möchte, ob und wen ich heiraten möchte und, und, und. Das Leben besteht aus vielen Entscheidungen, immer und immer wieder. Ein selbstbestimmtes Leben zu führen, bedeutet aber auch, dass ich mein Leben und meine Entscheidungen selbst in die Hand nehme.
Ich reflektiere meine Werte und Überzeugungen und informiere mich über meine Rechte, Pflichten und die möglichen Konsequenzen meiner Entscheidungen.
Selbstbestimmung im politischen Bereich bedeutet also auch, dass Gemeinschaften über ihre eigenen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Angelegenheiten entscheiden können. Spätestens hier müssen wir uns im Zusammenhang mit Selbstbestimmung auch mit Feminismus beschäftigen. Denn politische Selbstbestimmung und Feminismus haben ein gemeinsames Ziel: Freiheit, Autonomie und Unabhängigkeit – also die Macht und das Recht für marginalisierte und unterdrückte Gruppen, über ihre eigenen Angelegenheiten zu entscheiden. .
Im Jahr 2024 können wir nicht mehr von DEM Feminismus sprechen. Der Feminismus ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen und es gibt mittlerweile verschiedene Strömungen. Die Frauenbewegung hat sich immer wieder an gesellschaftliche und politische Strömungen und Entwicklungen angepasst.
Ein kurzer, stark verkürzter historischer Rückblick: Die erste Frauenbewegung, die im 18. Jahrhundert entstand, war stark von der Französischen Revolution und der Aufklärung geprägt. Parallel dazu entstanden die bürgerliche und die proletarische Frauenbewegung.
Seit den 1960er und 1970er Jahren sprechen wir vom Feminismus der zweiten Welle. Die politische Ausrichtung innerhalb der zweiten Welle war sehr unterschiedlich, aber die Hauptforderungen wurden von allen politischen feministischen Strömungen geteilt: Das Recht auf Selbstbestimmung.
Ab den 1980er Jahren spricht man von der Dritten Welle. Frauen organisierten sich sehr stark in verschiedenen Interessengruppen. Später wurde der postmoderne Feminismus ausgerufen und heute gibt es zahlreiche unterschiedliche theoretische feministischen Konzepte. So weit so kompliziert, könnte man meinen. Theoretische Konzepte können ungreifbar werden und den Eindruck erwecken, dass das alles nichts mit einem selbst zu tun hat.



Wie eingangs beschrieben, erwartet die Gesellschaft in Bezug auf die Selbstbestimmung von Frauen zu Recht, dass sie sich selbst reflektieren und informieren, selbstbestimmte Entscheidungen treffen und Verantwortung für ihr Handeln übernehmen. Ist dies immer möglich, wenn wir noch nachweislich in patriarchalen Strukturen leben?
Das Wort «Patriarchat» lässt bei vielen Menschen den Puls steigen. #sorrybutnotsorry. Patriarchale Strukturen zeigen sich in der Schweiz an verschiedenen Orten.
Hier eine Auswahl:
- Die politische Macht wird überwiegend von Männern kontrolliert. Frauen sind auf allen politischen Ebenen untervertreten und im Kanton Zürich gibt es mehrere Gemeinden, in denen keine Frau im Gemeinderat sitzt.
- Lohnungleichheit: Der unerklärte Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern beträgt in der Privatwirtschaft fast 14 Prozent. Der Lohnunterschied beim Eintrittslohn bei Hochschulabsolvent:innen beträgt bereits 7 Prozent und dies obwohl sich die Hochschulabschlussquote der Frauen seit 2000 fast vervierfacht hat.
- Gender Pension Gap: Die Renten der Frauen in der Schweiz sind rund 30 Prozent tiefer als jene der Männer. Gründe: «Frauenberufe» sind schlechter bezahlt, Lohnungleichheit, Frauen arbeiten häufiger Teilzeit, weil sie viel mehr unbezahlte Care-Arbeit übernehmen. Der Gender Pension Gap hat sich in den letzten 15 Jahren kaum verändert.
- Unbezahlte Care-Arbeit: Frauen übernehmen nach wie vor den Grossteil der unbezahlten Care-Arbeit. Die ungleiche Verteilung dieser Aufgaben ist tief in patriarchalen Vorstellungen verankert, die Frauen für diese Tätigkeiten verantwortlich machen.
- Sexismus und Gewalt gegen Frauen: Jede zweite Woche wird in der Schweiz eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet. Femizide bilden die Spitze der Gewaltpyramide, Alltagssexismus und Verharmlosung die Basis. Gesellschaft und Politik tun sich schwer, diese Probleme offen anzusprechen, was das Fortbestehen dieser Strukturen begünstigt.
Es ist schön und gut, wenn im Zusammenhang mit Selbstbestimmung von Frauen gefordert wird, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Das Gleiche muss aber auch von den Männern gefordert werden: Nicht nur Frauen sollen mehr Frauen in politische Ämter wählen, sondern auch Männer müssen dies tun. Oder bei der Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Männer – sprecht sexistisches Verhalten im Freundes- und Kollegenkreis an. Es kann nicht sein, dass wir alle mindestens ein Opfer sexualisierter Gewalt kennen, aber niemand auch nur einen Täter. Männer – euer Nichtstun fördert diese Kultur und verhindert weibliche Selbstbestimmung.

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