Text: Olivia Frei
Ich versuche mich zu erinnern: Wann habe ich Taylor Swift zum ersten Mal bewusst wahrgenommen? Ihr Debütalbum (2006) ist an mir vorbeigegangen, das zweite (2008) grösstenteils auch. Als dann 2009 der Vorfall mit Kanye West durch die Medien ging, hatte ich zum ersten Mal Gefühle für diese Frau. Dazu später mehr. Die nächsten zwei Alben habe ich wahrgenommen und ab dem fünften war es um mich geschehen.
Es muss im Jahr 2014 gewesen sein, als ich Taylor Swift in ihrem Musikvideo zu «Shake it Off» in verschiedenen Stilen staksig tanzen sah und dachte: «Wieso tanzt diese unglaublich talentierte und schöne Frau so unbeholfen rum?» Bis dahin kannte ich nur weibliche Popstars, bei denen Aussehen und sexy Moves mindestens genauso wichtig waren wie ihre stimmlichen Qualitäten. Als Teenager in den 90er kannte ich die Spice Girls, gecastet als Pendant zu den Boybands. Merkmal: Girl-Power und kurze aktive Karriere. Oder Destiny’s Child: stimmgewaltig und durchchoreographiert. Hier kommt Beyoncé ins Spiel, auch dazu später mehr.
Es gab in den 90ern drei Kategorien von singenden Frauen:
Und jetzt kommt Taylor Swift. Ein wandelnder Widerspruch: Sie singt sehr gut, ohne das Stimmvolumen einer Whitney Houston oder Adele. Sie macht Popmusik, aber mit literarischem Anspruch und Tiefgang. Sie sagt, es sei sehr schwer für sie, Choreografien zu lernen und deshalb gibt es bei ihr nur minimale. Sie ist «larger than life» und doch eine von uns. Sie reist im Privatjet, ist Milliardärin (die erste und einzige, die das nur mit ihrer Musik geschafft hat) und hat berühmte Partner. Sie hat Herzschmerz, Selbstzweifel, trinkt mal einen über den Durst, jammert nach der Augen-OP, liebt die Serie Friends und lässt uns an all dem teilhaben.
Olivia El Sayed schrieb in der NZZ am Sonntag, dass das, was Taylor zum Megastar mache, sei, dass sie eine wandelnde Antithese ist: Sie schlägt eine Brücke zwischen Indie und Mainstream und ist der menschgewordene Mediensprung. Taylor funktioniert sowohl analog als auch digital. Um zu verdeutlichen, was sie damit meint: Für ihre Instagram-Posts bekommt Taylor durchschnittlich rund 8 Millionen Likes und ihr neustes Album wurde am Erscheinungstag über 300 Millionen Mal gestreamt. Die Menschen wollen an ihre Konzerte: Ihre Eras-Tour (läuft seit 2023 bis voraussichtlich Ende 2024) hat bisher über 1 Milliarde Dollar eingespielt und die Anekdoten sind zahlreich: Städte benannten sich für Taylor Swift um oder ernannten sie für einen Tag zur Bürgermeisterin, Monumente wurden speziell beleuchtet (z.B. der Cristo in Rio), Seismographen registrierten Erdbeben, während ihre Fans am Konzert zu «Shake it Off» tanzten und Fans, die keine Tickets ergattern konnten, sangen und tanzten zu Tausenden ausserhalb der Stadien mit.
Was Millionen von Frauen und Mädchen so fasziniert, ist Taylors Storyteller-Fähigkeit. Ihre Songs handeln von persönlichen Erfahrungen, romantischen Beziehungen sowie dem Umgang mit Kritik und Selbstzweifeln. Sie erzählen Geschichten über fiktive Charaktere, beinhalten historische Handlungsstränge, handeln von Geschlechterstereotypen und Doppelmoral. All das erzählt sie voller Poesie, Wortspiele und literarischer Anspielungen. Für ihre Texte erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Kunstwissenschaften der New York University.
Immer wieder musste sie sich die Definitionshoheit von den Männern zurückerobern. Zwei Beispiele. Als Taylor Swift 2009 einen Musikvideo-Preis erhielt, sprang der damals 32-jährige Rapper Kanye West auf die Bühne, schnappte sich das Mikrofon der 19-jährigen Swift und sagte, sie habe diesen Preis nicht verdient, er hätte an Beyoncé gehen sollen. Das war den beiden Frauen sichtlich unangenehm. Ein anderer Mann, der Musikmanager Scooter Braun, kaufte sich – ohne Swifts Zustimmung – bei der Plattenfirma die Rechte an ihrer Musik und verdiente an ihr. Daraufhin nahm sie vier ihrer ersten fünf Alben neu auf, brachte sie als «Taylor’s Version» auf den Markt und forderte ihre Fans auf, künftig nur noch diese Version zu hören. Sie erkämpfte sich die Rechte an ihrer eigenen Musik zurück und damit auch einen neuen Plattenvertrag mit hundertprozentiger kreativer Freiheit.
Taylor Swift widersetzt sich dem Mythos, dass es immer nur eine geben kann. Seit 2009 werden Taylor und Beyoncé miteinander verglichen: Wer macht die bessere Musik, wer ist erfolgreicher, wer hat den grösseren kulturellen Einfluss, etc. Die beiden machen dieses Spiel nicht mit. Im Gegenteil, sie unterstützen sich gegenseitig und surften im Sommer 2023 gemeinsam auf der ultraerfolgreichen popkulturellen Feminismus-Welle: Taylors Eras-Tour, Greta Gerwigs Blockbuster-Erfolg mit dem Barbie-Film und Beyoncés Renaissance-Tour. Niemand kam daran vorbei. Etwas, das ich weder als Teenager noch als erwachsene Frau erlebt habe: Frauen, die das Musikgeschäft nachhaltig prägen, Erfolgsrezepte neu formulieren und sich trauen, nach ihren eigenen Regeln zu spielen. Und dabei die Massen begeistern und mit ihrer Fanbase eine Wirtschaftsmacht aufbauen, die in der analogen und digitalen Welt Gewicht hat.
Und so werde ich am 9. Juli mit meiner 10-jährigen Tochter im Letzigrund stehen. Wir werden zusammen singen und tanzen und ich werde mich freuen und zu Tränen gerührt sein, dass die Mädchen 2024 dieser wunderbaren Frau zuschauen können. Dass sie am Beispiel von Taylor sehen, wie mächtig Frau sein kann (und dass sich Geschäftssinn und Freundlichkeit nicht ausschliessen). Dass sie Teil einer nicht zu unterschätzenden globalen Bewegung sind. Dass sie erleben, was Frauensolidarität ist. Ich werde sehen, wie meine Tochter eine Frau vor sich hat, die singt: «Never be so kind, you forget to be clever. Never be so clever, you forget to be kind.»
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