Interview: Alexandra Müller mit Stephanie von Orelli
Bis heute gilt der männliche Körper in der Medizin oft als Norm – mit fatalen Folgen für die Frauengesundheit. Die Zürcher Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe, Dr. Stephanie von Orelli erklärt im Gespräch mit der Frauenzentrale Zürich, was Gendermedizin bedeutet, warum Frauen in Forschung und Klinik noch immer benachteiligt sind und was sich dringend ändern muss.
Frauenzentrale Zürich (FZ): Frau Dr. von Orelli, was heisst für Sie Gendermedizin und was wird daran oft missverstanden?
Stephanie von Orelli (SvO): Gendermedizin befasst sich mit den Unterschieden zwischen den Geschlechtern. Einerseits mit den biologischen und andererseits mit den sozialen, das heisst als gesellschaftliche Rolle. Dabei werden Einflüsse auf die Gesundheit, Krankheiten, Diagnostik, Therapien und Prävention untersucht. Es geht nicht nur um den Einfluss der Biologie, sondern auch um die Stellung der Person, z.B. ihrem Zugang zu Gesundheitsleistungen, zu Informationen, ihr Risikoverhalten etc. Die Gendermedizin befasst sich nicht primär mit der Frage der körperlichen Geschlechtsangleichung oder -veränderung.
FZ: Wie zeigt sich medizinischer Sexismus im Alltag einer Frauenklinik? Und was bedeutet das konkret für Patientinnen?
SvO: Ich war immer etwas irritiert, wenn wir Frauen unter der Geburt begleiteten, welche ihre Schmerzen nicht mehr ertragen konnten und eine Periduralanästhesie brauchten. Da sprachen die Anästhesieärzt:innen oft nur von «Wehenintoleranz». Der Respekt vor den immensen Schmerzen fehlte. Diese Schmerzen sind vergleichbar mit Nierenkoliken, und da würde auch niemand sagen, eine Patient:in ist «schmerzintolerant».
«Der Respekt vor den immensen Schmerzen fehlte.»
FZ: Sie haben viele Jahre als Chefärztin gearbeitet. Mit welchen strukturellen Hürden sind Patientinnen in unserem Gesundheitssystem konfrontiert?
SvO: In der Schweiz sind wir sehr privilegiert, da die meisten Menschen Zugang zu medizinischer Versorgung haben. In meinen Augen wird noch zu wenig berücksichtigt, dass ein Mensch auch immer eine soziale Rolle hat. Eine Frau, die einen pflegebedürftigen Mann hat, muss bei einer notwendigen Chemotherapie anders begleitet werden. Gesundheit heisst nach WHO: körperliches, psychisches und soziales Wohlbefinden. Deshalb gilt es auch, die verschiedenen Bedürfnisse des Menschen zu beachten.
FZ: Warum wurde Ihrer Einschätzung nach so wenig in die Forschung rund um Menopause, Perimenopause oder Endometriose investiert?
SvO: Ich kann nicht beurteilen, wie viel investiert wurde. Beispielsweise wurden grosse Studien zum Hormonersatz in der Menopause gemacht und auch bei der Endometriose haben wir spannende neue Medikamente und diagnostische Möglichkeiten. Die Frage ist in meinen Augen, mit welchen Herausforderungen die Frauen mit starken Mensschmerzen oder perimenopausalen Stimmungsschwankungen umgehen müssen. Wie weit werden sie in ihrem Leiden ernstgenommen?

FZ: Welche Dinge müssten sich Ihrer Meinung nach in der medizinischen Ausbildung sofort ändern, damit Frauengesundheit endlich ernst genommen wird?
SvO: Ich denke, das Sensibilisieren der Medizinstudierenden auf diese Thematik ist wichtig. Zum Beispiel werden viele Studien auf Englisch publiziert. Teilweise steht bei dem untersuchten Kollektiv nur «Patient», das heisst es wird nicht aufgeschlüsselt, ob es sich um Männer oder Frauen handelt, obwohl es deutliche Geschlechterunterschiede in der Reaktion auf ein Medikament gibt. Forschung mit Frauen ist in der Regel umständlicher, weil mehr Parameter wie z.B. der Zyklus beachtet werden muss.
FZ: Viele Frauen erleben in der Sprechstunde, dass sie nicht ernst genommen werden. Was raten Sie ihnen und wie gehen Sie selbst mit diesem Spannungsfeld um?
SvO: Die Verständigung zwischen Ärzt:innen und Patient:innen ist komplex. Innert kurzer Zeit muss der Leidensdruck und die Diagnostik gemacht werden. Mir kommen gerade zwei Beispiele in den Sinn, die nicht gut gelaufen sind. Bei der einen Patientin wurde ein Herzbeutelentzündung nicht erkannt und man hat ihr Panikattacken oder vegetative Symptome unterstellt. Eine andere Patientin mit einer Schwangerschaftsvergiftung (Präeklampsie) sollte zunächst nicht mit der Sanität mitgenommen werden, weil sie so ruhig und gefasst blieb. Erst nachdem ihr Ehemann intervenierte und Druck machte, wurde sie transportiert.
«Erst nachdem ihr Ehemann intervenierte und Druck machte, wurde sie transportiert.»
Meiner Erfahrung nach ist es sehr traumatisierend, wenn einem Hilfe verweigert wird oder man nicht ernst genommen wird. Manchmal belastete einen diese Hilflosigkeit mehr als die Krankheit selbst. Es ist anmassend einer Frau mit Atemnot primär eine Panikattacke zu unterstellen. Vor allem wenn eine solche Erkrankung nicht bekannt ist.
«Es ist anmassend einer Frau mit Atemnot primär eine Panikattacke zu unterstellen.»
FZ: Wir bei der Frauenzentrale Zürich erwähnen auch den medizinischen «Data Gap». Wie gefährlich ist dieser Mangel an Wissen und Forschung konkret für Frauen?
SvO: Er ist gefährlich. Der «Data Gap» führt zu verschleppten Diagnosen, Therapien, Medikamentennebenwirkungen und unvorhergesehene Überdosierungen von Medikamenten.
Allerdings haben die Frauen einen grossen Vorteil: Viele gehen regelmässig zur Gynäkologin und sind somit besser begleitet in Bezug auf Prävention und Früherkennung.
FZ: Was wünschen Sie sich von der Politik – und was von der Gesellschaft – wenn es um Frauengesundheit geht?
SvO: Ich wünsche mir neben der genderspezifischen Forschung auch mehr Verständnis für spezifische Frauenkrankheiten. Ich denke da an Schmerzen während der Menstruation, an Schwangerschaft und Geburt, an peri- und postmenopausale Symptome.
FZ: Was stimmt Sie hoffnungsvoll? Gibt es Entwicklungen oder junge Ärzt:innen, die zeigen, dass sich etwas bewegt?
SvO: Meine Hoffnung liegt auf der Unterstützung im täglichen Alltag durch künstliche Intelligenz. Damit wir wieder mehr Zeit für das Gespräch, das Zuhören und evaluieren haben und nicht unter dauerndem Zeitdruck unsere Patientinnen durchschleusen müssen, weil dann noch so viel Administrative Arbeit bleibt.
FZ: Wenn Sie eine Botschaft an alle Frauen richten könnten, was wäre das?
SvO: Wenn Ihr unsicher seid oder unbeantwortete Fragen habt, dann holt euch eine Zweitmeinung.
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Dieses Interview gehört zur Kampagne «FeMedizid». Ein Aufruf der Frauenzentrale Zürich, die Wissenslücke in der Medizin endlich zu schliessen und Frauengesundheit sichtbar zu machen.
Wir freuen uns ausserdem sehr, Dr. Stephanie von Orelli als neue Expertin für Gendermedizin in unserem Netzwerk begrüssen zu dürfen.