CHANGE IS POSSIBLE

Das Politikum Prostitution erhitzt schweizweit immer wieder die Gemüter. Die Aktivistinnen Elly Arrow und Lydia Grace sowie Peter Widmer von Heartwings reden Klartext. Sie erzählen im Interview, weshalb sie sich damit beschäftigen und welche Zukunftswünsche sie hegen.

Interview: Olivia Frei

FZ: IHR BRINGT UNTERSCHIEDLICHE PERSPEKTIVEN AUF DAS THEMA PROSTITUTION MIT. WESHALB BESCHÄFTIGT IHR EUCH DAMIT?

PETER WIDMER (PW): Meine Frau und ich waren mehrere Jahre in afrikanischen Ländern für ein Hilfswerk tätig. Dort haben wir die verschiedenen Gesichter des Menschenhandels hautnah erlebt. In Edelsteinminen, Kindersoldaten im Ruanda-Genozid oder eben auch in der Zwangsprostitution. Wir haben damals angefangen, Menschen aus der Prostitution zu begleiten.

ELLY ARROW (EA): Ich habe mich in meiner Schulzeit mit dem Thema Pornografie beschäftigt und schnell gelernt, dass es sich mit Prostitution überlappt. Ich lernte, dass jeden Tag Frauen in meiner Stadt ausgebeutet werden: auf der Strasse, in Bordellen, im Escort. Als Mediendesignerin versuche ich heute, Inhalte über die Sexindustrie verständlich zu verpacken.

«ICH LERNTE, DASS JEDEN TAG FRAUEN IN MEINER STADT AUSGEBEUTET WERDEN.»

Lydia Grace (LG): Mit 20 bin ich aus der Prostitution ausgestiegen, hatte meine Geschichte aber bis zu einem Zusammenbruch vor zwei Jahren komplett verdrängt. Ich brauchte andere, die dem, was mir passiert ist, einen Namen gaben. Erst dann konnte ich es annehmen: Ich bin ein Opfer von Prostitution. Seither spreche ich darüber, um jenen eine Stimme zu geben, die es nicht können.

FZ: ELLY, DU LEGST IN DEINER ARBEIT DEN FOKUS VOR ALLEM AUF DIE FREIER. WESHALB?

EA: Wenn man Freierforen studiert, merkt man schnell: Freier interessiert nicht, wenn sie kriminelle Aktivitäten bemerken. Sie sind auf ihr persönliches Vergnügen konzentriert: War die Frau aktiv? Hat sie Enthusiasmus gezeigt? Ist er zum Orgasmus gekommen? Wie gross sind ihre Brüste? Hat sie sich zu Verkehr ohne Kondom überreden lassen? Ist sie wirklich Spanierin oder doch eher Rumänin? Die Bewertungssysteme der Freierforen spiegeln die Werbeseiten der Bordelle. Es ist die absolute Objektifizierung der Frauen. Wollen wir als Gesellschaft, dass Frauen so behandelt werden? Die Diskussion soll sich auf das problematische Verhalten der Männer fokussieren.

FZ: WARUM IST ES FÜR DIE FRAUEN WICHTIG, DASS ES EUCH GIBT?

PW: Ihr Vertrauen ist gebrochen, sie brauchen neue Bezugspersonen, denn sie leben abgesondert in ihrem Bordell. Wir bauen mit unseren regelmässigen Besuchen Vertrauen auf. In unseren Räumlichkeiten an der Langstrasse können die Frauen zur Ruhe kommen, schöne Kleider aussuchen oder sich die Nägel machen lassen. Zu Beginn betonen sie manchmal, dass sie freiwillig in der Prostitution sind. Erst mit der Zeit erzählen sie mehr und merken, dass sie nicht selbst aus dem System rauskommen. Wenn sie dies wollen, ändert sich unsere Arbeit vom Aufsuchenden zum Begleitenden.

FZ: MÔNICA, KANNST DU UNS VON DEINEM EINSTIEG ERZÄH LEN? WARUM WAR PROSTITUTION FÜR DICH EINE OPTION?

ML: Im Stellenanzeiger waren vorn immer die «richtigen» Jobs und hinten die Sexanzeigen. Als ich mit 17 von zu Hause wegging, hatte ich keine Ausbildung und fiel durch alle Raster. Ich war intelligent, lernte schnell und naiv dachte ich, dass die potenziellen Arbeitgeber das erkennen würden. Aber ich bekam einfach keine Stelle. Irgendwann hatte ich so ein negatives Bild von mir und kein Geld, kein Essen, kein Dach über dem Kopf. Mit 16 meldete ich mich bei einer grossen Bordell-Kette. Dort wurde ich eingeführt und merkte schnell, dass es einzig um die Wünsche und Fantasien der Freier geht. Ich war ein Teenager und hatte keine Ahnung vom Leben. Da ich mir schon als Kind immer Kommentare über meinen Körper hatte anhören müssen, glaubte ich, das, was zählt, ist das Äussere. Warum also nicht damit eigenes Geld verdienen. Aber es ist eine Industrie und das Geld reicht dann doch nie. Du musst so viel in dein Äusseres investieren, in Dessous, Make-up, Kosmetikartikel etc.

«DAS SYSTEM ARBEITET ENG KOORDINIERT UND NÜTZT DIE FRAUEN AUS.»

FZ: PETER, WIE ERLEBT IHR DIESE INDUSTRIE IN DER AUFSUCHENDEN ARBEIT?

PW: In der Schweiz haben wir im Lauf der Jahre über 400 Bordelle besucht. Man sieht in diesem System verschiedene organisierte Netzwerke: zum Beispiel Hells Angels, nigerianische und italienische Mafia, Netzwerke aus Osteuropa, dem Balkan, der Türkei oder aus Südamerika. Sie sind eng verbunden mit den hiesigen Hausbesitzern, die mit den Liegenschaften viel Geld machen. Ein Beispiel: In einem Gammelhaus an der Langstrasse werden kleine Zimmer für 500 Franken pro Woche vermietet, vier Frauen aus Nigeria teilen es sich. Hat eine Frau einen Freier, müssen alle raus, sie kommen nicht zur Ruhe. Es gibt auch Zimmer in besseren Häusern, die kosten dann 100, 200 Franken pro Tag. In den Wohnungsbordellen können sie weder die Preise noch die Dienstleistungen selbst bestimmen. Zudem müssen sie 50 Prozent der Einnahmen abgeben. Hausbesitzer, Bordellbetreiber, Buchhalter: Alle verdienen, nicht aber die Frauen. Das System arbeitet eng koordiniert.

FZ: WIE HÄNGEN PORNOGRAFIE UND PROSTITUTION ZUSAMMEN?

EA: Es gibt eine enge Verbindung, schon weil viele Frauen in beiden Industrien gleichzeitig ausgebeutet werden. Da sind die pornografischen Bilder der Frauen auf den Werbeseiten. Wenn ich in der Prostitution bin, besteht die reelle Gefahr, dass pornografisches Material von mir unkontrolliert verbreitet wird. Es gibt oft Kameras in den Bordellen, wo Frauen häufig nackt rumlaufen. Es kann als Erpressungsmaterial gebraucht werden und landet nicht selten im Internet. Es gibt auch Freier, die sich beim «Sex» filmen wollen und dafür mehr Geld bieten. Aber vor allem wollen Freier Praktiken, die sie in Pornos sehen, im Bordell ausprobieren, weil die eigene Frau oder Freundin nicht mitmacht.

FZ: WIE KANN EIN AUSSTIEG GELINGEN?

PW: Das Wichtigste ist, dass diese Frauen keinen Druck mehr erleben, denn ihr ganzes Leben bestand bisher aus Druck. Sie bestimmen das Tempo und entscheiden, ob sie Hilfe wollen. Zuerst müssen sie Deutsch lernen, und es braucht die Bereitschaft, wirklich eine Veränderung zu wollen. Dann folgt ein Arbeitsvertrag in unserem Aussteigerinnenprogramm im Hauswirtschaftssektor. Wir stellen die Frauen an, beantragen die Aufenthaltsbewilligung und geben ihnen einen neuen Wohnort. Das Ziel ist, dass sie Referenzen und Arbeitszeugnisse bekommen. Ein Ausstieg ist sehr individuell. Manche sind nach sechs Monaten zurück im Herkunftsland und bauen dort etwas Eigenes auf. Andere bleiben in der Schweiz und helfen wiederum anderen beim Ausstieg. Dann gibt es auch die, die zwei Anläufe brauchen. Es braucht manchmal einen langen Atem.

FZ: WIE LIEF DEIN AUSSTIEG AB?

ML: Ich musste zuerst erkennen, dass es andere Optionen gibt und dass ich etwas wert bin. Durch Geschichten anderer Aussteigerinnen habe ich erkannt, dass man es schaffen kann. Ich hatte eine Art göttliche Begegnung und fragte mich, was wäre, wenn ich neu starten könnte. Innerhalb von zwei Wochen liess ich mein altes Leben hinter mir. Das war schwer: Ich sah mich nicht als Opfer und dachte darum, dass ich keinen Anspruch auf Hilfe habe. Ich lernte Frauen mit einer ähnlichen Geschichte kennen. Sie wollten nicht öffentlich darüber sprechen, darum fing ich an, auf Social Media über Prostitution aufzuklären. Für mich war es wichtig, dass mir niemand mehr sagen konnte, wie ich mich zu fühlen habe. Heute heisst Freiheit für mich, dass ich das Recht habe, zu sagen, was ich erlebt habe.

«HEUTE HEISST FREIHEIT FÜR MICH, DASS ICH DAS RECHT HABE ZU SAGEN, WAS ICH ERLEBT HABE.»

FZ: WELCHE LÖSUNGSANSÄTZE GIBT ES FÜR DAS SYSTEM PROSTITUTION?

EA: Die ideale Lösung gibt es nicht, da so viele schwierige Systeme ineinandergreifen. Meine Vision ist eine breite gesellschaftliche Koalition für die Abschaffung der Prostitution, die mit der Bekämpfung von Armut, Frauenhass und Rassismus einhergeht. Die moderne Version dieser Vision ist das Nordische Modell. Erstens macht es eine klare Wertung: Egal warum eine Frau anschafft, sie ist niemals schuld, sondern hat immer Unterstützung und Hilfe verdient. Dieses Modell löst die komplexen Fragen rund um Aufenthaltsrecht und Migration nicht sofort. Aber es lässt zu, dass wir Unterstützungsangebote und langfristige Begleitung ausbauen. Die Frauen sind bei uns derzeit nicht vollständig entkriminalisiert. Sie werden beispielsweise bestraft, wenn sie in Sperrzonen arbeiten oder während der Pandemie zu überleben versuchen – was sich dringend ändern muss. Zweitens sagt das Modell, dass Freier keine «Kunden» und Zuhälter keine «Arbeitgeber» sind, sondern zur Verantwortung gezogen werden müssen. Es sagt klar: Frauen sind keine Ware und der Staat stellt kriminellen Netzwerken keine Infrastruktur zur Verfügung. Der Straftatbestand der Zuhälterei wird ausgeweitet, um mehr Opfern rechtlichen Schutz zu bieten. Zudem reduzieren wir durch die Bestrafung der Freier langsam die Nachfrage. Der Wandel in den Köpfen, den das Nordische Modell mit Aufklärungs- und Präventionsprogrammen in der Bevölkerung anstrebt, wird Generationen dauern, und ja, es wird Prostitution immer geben. Aber das Ausmass spielt eine Rolle.

«DIE IDEALE LÖSUNG GIBT ES NICHT, DA SO VIELE SCHWIERIGE SYSTEME INEINANDERGREIFEN.»

FZ: WAS BRAUCHT DER GEMEINNÜTZIGE VEREIN HEARTWINGS, DAMIT IHR EURE ARBEIT WEITERHIN MACHEN KÖNNT?

PW: Wir sind dankbar für alle Organisationen und Menschen, die unsere Arbeit unterstützen. Wir sind auf Spenden – Geld- oder Sachspenden – angewiesen. Wir suchen schon lange ein grosses Haus in Zürich, wo wir Zimmer, ein Bistro sowie die Aussteigerinnenprogramme unter einem Dach haben können.

FZ: WIE HÄLTST DU DIESE ARBEIT AUS?

EA: Mittlerweile helfen mir Frauen, die selbst ausgestiegen sind, die aber anonym bleiben möchten. Kraft gibt uns zu wissen, dass wir nicht ins Leere kommunizieren. Es gibt eine Reaktion und es gibt konkrete Ziele für eine Verbesserung auf politischer und gesellschaftlicher Ebene.

FZ: WAS WÜNSCHST DU DIR FÜR DIE ZUKUNFT?

ML: Sprache ist wichtig: Ich bin keine Aussteigerin, ich bin Prostitutionsüberlebende. Ich war auch nicht Prostituierte, sondern wurde prostituiert. Nur so wird das System sichtbar. Mein Traum ist es, zu sehen, dass Frauen, die prostituiert wurden, in allen Gesellschaftsschichten Positionen einnehmen und erfolgreich sind: als Anwältinnen, in der Kunst, an Universitäten, in der Politik und der Arbeitswelt. Wenn wir Überlebende laut werden, schaffen wir eine starke Bewegung, die nicht ignoriert werden kann.

«Wenn wir Überlebende laut werden, schaffen wir eine starke Bewegung, die nicht ignoriert werden kann.»

PETER WIDMER

Peter Widmer und seine Frau Dorothée arbeiteten früher sechs Jahre bei einem Hilfswerk in Tansania (Afrika) unter Strassenkindern und Prostituierten. 2008 gründeten sie zusammen den gemeinnützigen Verein Heartwings, eine aufsuchende Milieuarbeit im Zürcher Rotlichtmilieu, deren Leitung sie mit einem Team zusammen bis heute sind.

ELLY ARROW

Elly Arrow ist feministische Aktivistin, Bloggerin und Youtuberin mit dem Schwerpunkt Prostitution und sexuelle Ausbeutung. Sie betreibt den Blog «Die Unsichtbaren Männer» (Instagram, Youtube), auf dem Zitate von Freiern aus dem deutschsprachigen Raum veröffentlicht werden. Weitere Projekte sind ein Vergleich der Prostitutionsgesetze von Deutschland und Neuseeland, ein Freierzitate-Projekt für den Bundesstaat New York und Übersetzungsarbeiten für Mitstreiterinnen.

Lydia Grace

Lydia Grace – Überlebende von Kinder- und Menschenhandel und Prostitutionsaussteigerin – setzt heute ihre Energie dafür ein, Menschen aufzuklären, welches Leid Prostitution auslöst.

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