Text: Belinda Schweizer
Im Gespräch mit Flavia Kleiner von alliance f beleuchten wir die Ergebnisse der Parlamentswahlen 2023 und deren Auswirkungen auf die Geschlechterparität in der Schweizer Politik. Trotz der historischen Zunahme von Kandidatinnen ist die Entwicklung nicht linear verlaufen.
Frauenzentrale Zürich (FZ): Liebe Flavia, im Kanton Zürich konnte ein leichter Anstieg des Frauenanteils im Nationalrat mit 47 Prozent verzeichnet werden. Gesamtschweizerisch war das Wahljahr für Frauen kein gutes, obwohl noch nie so viele Frauen kandidiert haben. Wie erklärst du dir das?
Flavia Kleiner: Fortschritt verläuft in Schüben, nicht linear. Nach der sogenannten Frauenwahl von 2019 haben wir dieses Mal mit einer Konsolidierung gerechnet. Das hatte auch mit den Erwartungen an die Parteistärken zu tun: man rechnete mit einem guten Abschneiden der SVP, deren Frauenvertretung unterdurchschnittlich ist. Das wirkt sich aus. Die SVP hat dann tatsächlich Sitze dazugewonnen, und die Grünen und Grünliberalen, die bezüglich Frauenanteil vorbildlich sind, haben Sitze verloren. Angesichts dessen sieht die Bilanz nicht so schlecht aus. Das hat wiederum mit der Mitte zu tun, wo Frauen heute deutlich besser vertreten sind als früher.
FZ: Wenn du eine kurze Wahlanalyse des vergangenen Wahlsonntags vom 22. Oktober 2023 hinsichtlich Geschlechterparität im nationalen Parlament machen müsstest, wie sähe diese aus?
Flavia Kleiner: Die Richtung ist klar: die Frauen sind gekommen, um zu bleiben. Dass es jetzt keinen grösseren Einbruch gab, trotz der erwähnten Parteienstärken, ist auch die Folge eines grossen überparteilichen Engagements von vielen Menschen. Die Frauenallianz funktioniert.
«Die Frauen sind gekommen, um zu bleiben.»
FZ: Helvetia ruft! hat auf eine bessere Demokratie nach den nationalen Wahlen gewettet. Ihr habt die Parteien zu einem Handschlag eingeladen, um zu vereinbaren, dass sie mit einer 50:50-Liste antreten. Das bedeutet, dass es auf den Listen gleich viele Frauen wie Männer gibt. Wer hat die Wette gewonnen?
Flavia Kleiner: Das muss ich präzisieren: Die jeweiligen Parteipräsident:innen konnten selber ein Ziel setzen, schliesslich starteten nicht alle vom selben Punkt aus. SP, Grüne, GLP und EVP haben ihre Wette gehalten, die Mitte grösstenteils auch. Die FDP aber hat ihr Ziel verfehlt. Thierry Burkart wollte den Frauenanteil in der liberalen Fraktion auf 40 Prozent erhöhen. Das ist nicht ganz gelungen; die FDP schaffte nur 34 Prozent.
FZ: Die Vertretung von Frauen im Ständerat ist grundsätzlich wichtig. Für welche wichtigen Geschäfte der neuen Legislaturperiode ist es vor allem wichtig, dass auch Frauen im Ständerat mitentscheiden?
Flavia Kleiner: Beispielsweise für das Kita-Gesetz, nach dem der Bund 20 Prozent der Beiträge erwerbstätiger Eltern übernehmen soll. Einige der Kandidatinnen, die jetzt in den zweiten Wahlgang für den Ständerat ziehen, haben dieses zuvor im Nationalrat oder als Bisherige im Ständerat unterstützt. Diese Kräfte zu stärken, ist wichtig.
FZ: Glaubst du, dass Frauen in nationalen Parlamenten grundsätzlich anders Politik machen als Männer? Und wenn ja, inwiefern?
Flavia Kleiner: Dazu gibt es empirische Untersuchungen. Und die besagen: Ja, in gewissen Sachgebieten machen Frauen tendenziell eine leicht andere Politik als Männer. Dazu gehören etwa Sozialpolitik, Bildung, Nachhaltigkeit und Friedenspolitik. Es kann also auch inhaltlich einen Unterschied machen, ob man von der Partei, die man bevorzugt, eher Männer wählt oder eher Frauen.
FZ: Gibt es spezifische Herausforderungen, mit denen vor allem Frauen in Bundesbern konfrontiert sind?
Flavia Kleiner: Das sind teilweise ähnliche, die Frauen aus anderen Bereichen der Gesellschaft kennen: die Schwierigkeit, Beruf und Familie zu vereinbaren oder allfällige Begegnungen mit sexueller Belästigung oder Diskriminierung. Bei Politikerinnen kommt vor allem die Präsenz in der Öffentlichkeit hinzu – man weiss aus Studien, dass sie tendenziell stärker Anfeindungen ausgesetzt sind als männliche Kollegen. Auch zielen die Angriffe eher auf private Attribute.
FZ: Welche politischen Meilensteine waren deiner Meinung nach die wichtigsten der letzten Legislaturperiode, die von einem stärker von Frauen besetzten Parlament bestritten wurde?
Flavia Kleiner: Die Frauenallianz hat in der letzten Legislatur einiges erreicht. Beispielsweise das Ja zu einem verschärften Sexualstraftrecht und zur Ehe für Alle, mehr Ressourcen für Gendermedizin oder das Kita-Gesetz. Es liegt jetzt beim Ständerat.
«Die Frauenallianz hat in der letzten Legislatur einiges erreicht.»
FZ: Wo siehst du Schwierigkeiten und Risiken für die Gleichstellung und gleichstellungspolitischen Errungenschaften, wenn der Frauenanteil im Ständerat kontinuierlich auf einem so niedrigen Niveau von 29 Prozent verharrt und im Nationalrat von 42 Prozent auf 38,5 Prozent gesunken ist?
Flavia Kleiner: Grundsätzlich hält die Frauenallianz. Weil sie strategisch klug arbeitet, schuf sie auch bislang schon Mehrheiten, obwohl ihr Anteil unter 50 Prozent lag. Das liegt auch weiterhin drin, wenn wir zusammen dranbleiben.
FZ: Was würdest du unseren Mitgliedern und Wählerinnen und Wählern im Hinblick auf den 2. Wahlgang der Ständeratswahlen empfehlen?
Flavia Kleiner: In Zürich ist der Fall klar: Tiana Moser (GLP). Sie ist eine starke Partnerin in Gleichstellungsthemen und vertritt eine weltoffene und pragmatische Politik. Und: der Wahlzettel muss auch wirklich eingeworfen werden – denn Gregor Rutz (SVP) wird mobilisieren.
FZ: Was möchtest du uns noch unbedingt mitteilen?
Flavia Kleiner: Vielleicht noch einmal die Erinnerung daran: Fortschritt verläuft nicht linear. Aber er ist von Menschen gemacht. Es kommt drauf an, was wir tun oder nicht tun. Jede Stimme, jedes Engagement zählt.
FZ: Danke vielmals für das spannende Interview!
Flavia hat 2018 die Kampagne Helvetia ruft! gemeinsam mit Kathrin Bertschy initiiert. Seither arbeitet sie auf dem Projekt für alliance F. Sie ist Mitgründerin der liberalen Bewegung Operation Libero, und Stand der Bewegung während sechs Jahren als Co-Präsidentin vor. Sie hat Zeitgeschichte und Recht in Freiburg und Jerusalem studiert. |
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