Artikel: Geneviève Hesse
Wie zahlreiche europäische Länder hat auch Frankreich die Freierbestrafung beschlossen. Seit 2016 riskieren Freier dort Bussen, Haft und Pflichtworkshops. Bisher mussten die Prostituierten Strafe zahlen, wenn sie aktiv einen Freier ansprachen. Das wurde jetzt abgeschafft. Die Frauen selbst werden nicht kriminalisiert. Besuch eines Belehrungs-Workshops in der Stadt Évry in Frankreich.
Im überhitzten Raum eines nicht mehr so frischen Neubaus mit beflecktem Teppich sitzen fünf Männer im Halbkreis. Innerhalb drei Stunden soll der grosse, hagere Franzose François Roques sie dafür sensibilisieren, dass Sexkauf Gewalt ist. Mit seinen vielen Armbänden aus Leder und Metall sieht der pädagogische Psychologe nicht gerade wie ein Moralapostel aus. Bisher war er Expert gegen häusliche Gewalt. Er zieht ein Parallel: «Zu Hause sagt der Täter: ‘Es ist meine Frau, ich darf mit ihr machen, was ich will‘. In der Prostitution: ‘Ich habe sie bezahlt, ich mache, was ich will‘.»
Freiwillig sind die Teilnehmer nicht gekommen. In Wäldern, auf Strassen oder in Wohnungen wurden sie von der Polizei mit einer Prostituierten erwischt. Roques sagt, er wolle sie nicht verurteilen: «Ich will nur, dass Sie keinen Sex mehr kaufen. Und sei es nur aus Angst vor der Strafe.»
In Frankreich drohen Freiern seit 2016 bis zu 1‘500 Euro Busse, im Wiederholungsfall 3‘750 Euro. Ist die Frau minderjährig, schwanger oder behindert, dann werden es bis zu fünf Jahre Haft und 75‘000 Euro Busse. Wenn sie jünger ist als 15 Jahre: Bis zu sieben Jahren Haft und 100‘000 Euro Busse. Nur ein Fünftel der rund 5‘000 beim Kauf von Sex ertappten Männer nahm bisher an Workshops teil. François Roques hat bereits zwanzig solcher Kurse geleitet.
Das Gesetz stammt nicht aus dem alten Ansatz der Prohibition, sondern nennt sich abolitionistisch – eine Anlehnung an die Abschaffung der Sklaverei. Es trägt den Namen Nordisches Modell, weil Schweden es zum ersten Mal 1999 verabschiedet hat. Seitdem haben sich sieben weitere Länder angeschlossen: Norwegen, Island, Kanada, Nordirland, Frankreich, Irland, Israel. Frauen werden entkriminalisiert und bekommen Hilfen beim Ausstieg. Strafbar sind nur diejenigen, die sie ausbeuten. Sprich: Die Zuhälter, die Menschenhändler, und ganz neu: Die Sexkäufer. Ihre Nachfrage gilt als Wurzel der Prostitution.
Frauen werden entkriminalisiert und bekommen Hilfen beim Ausstieg.
Die Busse dürfen die französischen Départements selbst festlegen. Viele sind noch sehr lax, wie eine zweite Evaluation des Gesetzes durch die französische Stiftung Scelles es im Februar 2022 anprangerte. Die fünf Männer von Évry mussten nur 65 Euro Gebühr für das Workshop bezahlen.
«In den Städten, wo Beamte geschult sind – da klappt es besser. Wir brauchen mehr Schulungen», fordert Maud Olivier, die als Abgeordnete Co-Autorin des Gesetzes war. Sie ärgere sich über Polizisten, die nur eine Mahnung – oder Präfekturen, die nur einen Workshop vergeben: «Die Bussgelder brauchen wir, um mehr Frauen einen Ausstiegsparcours anbieten zu können.»
«Die Bussgelder brauchen wir, um mehr Frauen einen Ausstiegsparcours anbieten zu können.»
Maud Olivier ist heute in Évry ebenfalls anwesend. Sie sieht das Nordische Modell als Vorreiter der #MeToo-Bewegung und erklärt, damit wolle man wegkommen von der Idee, der weibliche Körper stehe Männern zur Verfügung – egal, ob mit erzwungenem Sex durch eine Vergewaltigung oder durch den Kauf von Sex. Die Prostitution bezeichnet die Politikerin als «Basis der Rape-Culture». Sie symbolisiere die Geschlechterungleichheit wie kaum etwas anderes: 85 Prozent der Prostituierten sind Frauen – und 99 Prozent der Käufer sind Männer.
Roques ermuntert die Teilnehmer, sich zu Wort zu melden; wer nicht wolle, müsse aber nicht. Ein Mittvierziger, kakifarbene Cargohose, muskulöse Arme, lockere Körperhaltung, schweigt. Ein gepflegter, gebräunter Mann um die 60, Glatze, schwarze Kleidung, nickt. Aus dem 61-jährigen Pablo, rissige Hände, schmutzige Nägel und funkelnd blaue Augen, platzt es heraus: «Die Prostituierte hat mich verführt.» Seine Frau dürfe nicht davon erfahren, er habe das noch nie gemacht, schuld sei ein Freund, der ihn dazu gedrängt habe. Tatsächlich? Roques sagt, viele Männer in der Runde würden immer wieder Ausreden bemühen. Zum Beispiel, dass es ungesund sei, keinen Sex zu haben. «Atmen, trinken, essen und schlafen sind überlebenswichtig. Nicht in einen anderen menschlichen Körper ejakulieren zu können, hat hingegen noch nie jemanden umgebracht», sagt Roques. Solch krude Behauptungen basierten auf patriarchalischem Denken.
Extrovertierter ist der 29-jährige Martin, ein sympathisch aussehender Lastwagenfahrer im kurzärmeligen Hoodie. Mit zwei Freundinnen und seinem besten Freund habe er über den Workshop geredet – nicht aber in der grossen Clique. Beim käuflichen Sex gefalle ihm, dass er sich nicht auf Gefühle einlassen müsse, sondern bekomme, was er wolle.
Nach der Pause folgt eine Art FAQ über die Prostitution. Die Teilnehmer schlagen Antworten vor, die Lösung folgt auf der nächsten Folie. Durchschnittliches Einstiegsalter? 14 Jahre. Lebenserwartung? 40 Jahre. Wie viele Minderjährige? Ein Drittel – weltweit 3 Millionen. Durchschnittliche Zahl von Freiern am Tag? 30, in extremen Fällen 80.
Die Quellen seiner Zahlen hat Roques unten auf seinen Folien eingetragen. Sie stammen aus Untersuchungen im Auftrag der Regierung, Studien von Beratungsstellen oder aus internationalen, wissenschaftlichen Publikationen. Und er erzählt auch gerne persönlich: Eine Aussteigerin habe ihm selber berichtet, pro Kunde habe sie den ganzen Tag denselben Song aufgelegt, maximal 5 Minuten. Die Männer kamen durch eine Tür rein, blieben bis zum Liedsende und gingen durch eine andere Tür raus. Betretenes Schweigen in der Runde.
«Warum prostituieren sich Menschen?» Über vier Folien geht die Antwort. Es sei keine freie Wahl, sondern entstehe aus einer besonderen Vulnerabilität der betroffenen Frauen. Zu 90 Prozent seien sie Opfer vom Menschenhandel und zu 80 Prozent Ausländerinnen. Mindestens 80 Prozent hätten vorher in ihrem Leben Gewalt erlebt und 38 Prozent eine Vergewaltigung, häufig durch die Zuhälter als Dressur. «In jeder Prostituierten steckt ein ermordetes, kleines Mädchen», steht auf der nächsten Folie.
Nächste Frage: «Wer nutzt ihre Vulnerabilität aus?». Martin: «Die Zuhälter – und auch wir beuten sie aus. Roques nickt zufrieden: «Vor sechs Jahren erwähnten die Teilnehmer nur die Zuhälter». Daraufhin analysiert Pierre, das Gesetz präge die Mentalitäten.
Und was sei mit der Studentin, die er neulich im Fernsehen sah, hakt Martin nach. Durch Prostitution hätte sie Geld für ihr Studium und Macht über die Männer. «Wozu brauchte sie denn Macht über die Männer? Warum hat der Journalist nicht danach gefragt», erwidert Roques. «Wie war es mit Papa oder mit dem Onkel, als sie klein war?». Dahinter stecke oftmals ein Trauma.
Wie viele beim Ausstieg geholfen wurden, möchte Martin wissen. Rund 600 Frauen seit 2016 findet er wenig. «Ganz ihrer Meinung», sagt Olivier. «Uns fehlen die Mittel. Wir brauchen qualifizierte Menschen. Sie brauchen Therapien und mehr als 350 Euro für sich im Monat». In ihrem Evaluationsbericht von Anfang 2021 berechneten die helfenden Organisationen, über 240 Millionen Euro seien jährlich notwendig, um alle zu begleiten, die aussteigen wollen.
Pablo und Pierre wollen mit ihren Söhnen und Freunden über das Gesetz reden – mit ihren Töchtern eher nicht. Selber werden sie nicht mehr zu den Prostituierten gehen. Auch Martin will keine neue Strafe riskieren.
«Und wenn sie überhaupt wieder hingehen, sinniert Maud Olivier – dann wird es für sie jetzt anders sein». Laut einer Ipsos-Umfrage aus Februar 2019 befürworten 78 Prozent der Menschen in Frankreich das Gesetz.
Zur Autorin: Die französische Journalistin Geneviève Hesse schreibt über Frauen, Familie und Feminismus. Die Deutschfranzösin lebt in Berlin und schrieb Publikationen für «Die Berliner Zeitung», «Der Tagespiegel», «Der Spiegel», «die taz», «Spiegel Online», «Die Jüdische Allgemeine», «Publik Forum» und für Printmedien europaweit.